Ein deutsches Rentenbewilligungsschreiben, aus dem hervorgeht, dass der Empfänger ab dem 1. Mai 2025 eine Erwerbsminderungsrente wegen voller Erwerbsminderung erhält, wobei der wichtigste Text in Fettdruck hervorgehoben ist.

Endlich Rentner

Die vergangenen 3, insbesondere aber das letzte Jahr waren geprägt von existentiellen Sorgen. ME/CFS macht bei mir mittlerweile ein „geregeltes“ Arbeiten unmöglich. Wovon sollen wir in Zukunft unsere Rechnungen bezahlen, wovon die Miete, und wovon die Medikamente? Seit Oktober 2024 gab es kaum einen Moment, in dem dieses Thema nicht alles beherrschte, zumal sich mein Zustand schneller verschlechterte als erhofft.

Nach dem abgelehnten Reha-Antrag und der gescheiterten Wiedereingliederung im April stellte ich deshalb den „Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit“. Sozialverbände und Selbsthilfegruppen warnten mich vor: das wird dauern, das wird kompliziert. Viele andere Betroffene schilderten, dass sie von der Rentenversicherung in schädigende Reha-Maßnahmen gesteckt, demütigende Gutachten durchgeführt und Anträge einfach abgelehnt wurden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dauert es Jahre und benötigt viele Widersprüche und Klagen, bis die Rente bewilligt wird. Und nicht wenige Patienten mit ME/CFS sind dann auf Grundsicherung bzw. Bürgergeld angewiesen. All das machte mir eine Riesen-Angst.

Und tatsächlich standen die Zeichen ja zwischenzeitlich auf Sturm: das völlig bescheuerte Gutachten durch einen Psychiater und zig Rückfragen der DRV waren nicht gerade geeignet, mich zu beruhigen. Jedes neue Formular im Posteingang erweckte den Eindruck, dass alles wieder von vorn beginnt. Und gleichzeitig tickte die Uhr, denn im April 2026 würde die Krankenkasse mich aus dem Krankengeld aussteuern. Am meisten Panik hatte ich vor einer zwangsangeordneten Reha: Es hat fast ein Jahr gedauert bis ich ein Pacing-Konzept entwickeln konnte, dass heftige Crashs und weitere Verschlechterung eindämmen kann. Und leider musste ich auch feststellen, dass Änderungen in diesem Ablauf ziemlich sicher zu dauerhaften Verschlechterungen führen. Insgesamt fußt meine Stabilisierung derzeit auf einem sehr wackeligen Konstrukt, und eine Reha hätte ein wahnsinnig großes Potential, dies zum Einsturz zu bringen. Hinzu kommt, dass ich während einer Reha über die Firma keine Einnahmen hätte, eben diese brauche ich aber zwingend, um meine Behandlung zahlen zu können. Das Krankengeld allein reicht dafür nicht aus. Die ganzen Sorgen waren hinsichtlich Stabilisierung letztlich nicht sehr hilfreich.

On Top kamen dann noch die unsäglichen Spar-Ideen unserer Regierung. Bei allem, was derzeit aus Berlin kommt, geht es um Kostenoptimierung und eigentlich überhaupt nicht mehr um Genesung oder zumindest würdige Versorgung. Kranken und bedürftigen Menschen wird in den Konzepten von CDU und CSU ja leider nicht mehr geholfen, sondern sie werden zum gesellschaftlichen Stigma und müssen irgendwie weg. Und jeder neue Vorschlag aus Berlin führt zu einer weiteren schlaflosen Nacht und zu noch mehr Druck, möglichst schnell eine gesicherte Versorgung zu bekommen.

Der Antrag ist ein Full-Time-Job

Wissend, dass die Vorgaben der Rentenversicherung entgegen dem aktuellen Forschungsstand ME/CFS immer noch als „psychosomatisch“ einstufen und deshalb falsche und schädliche Behandlungen angeordnet werden, wirst Du als Betroffener in einen völlig absurden Aktionismus gezwungen. Die Diagnose einer unheilbaren Erkrankung durch eine Fachärztin reicht nicht aus, um deinen Antrag zu rechtfertigen. Für deine Einschränkungen musst du den „juristischen Vollbeweis“ erbringen. Und das bedeutet, dass du für jedes noch so kleine Symptom zum entsprechenden Facharzt rennen musst, um es „in flagranti“ zu erwischen und irgendwie schriftlich an die Rentenversicherung weiterzuleiten. Blöd dabei ist, dass bei ME/CFS die Symptome kommen und gehen und auch in ihrer Stärke sehr schwanken. Einen Termin genau dann zu bekommen, wenn mal wieder was Neues auftritt, ist irre schwierig.

Die Folge: eigentlich rennt man nur noch zum Arzt ohne das eigentlich zu wollen und wissend, dass der einem ohnehin nicht helfen kann. Man rennt aber trotzdem hin, um die Gier nach „Beweisen“ für die Rentenversicherung (oder das Versorgungsamt) zu befriedigen. Man hat keine Wahl, bekommt aber dadurch recht schnell noch den Stempel des „Arzt-Hoppers“ und Hypochonders oben drauf. Und am Ende kostet es Energie, die man mit ME/CFS nicht mehr hat. Statt Genesung zu erfahren verschlimmert man selbst dadurch noch den eigenen Zustand. Vollkommener Schwachsinn, leider vollkommen unvermeidbar.

Hinzu kommt dann die ganze Koordination: sind Befunde und Berichte einmal da, müssen sie an die entsprechenden Stellen weitergeleitet werden. Da Ärzte ja bis heute offenbar nur selten miteinander kommunizieren, muss man als Patient dann Briefe hin und her schicken, erläutern und um Verschriftlichung von Befunden betteln. Das kostet nicht nur Zeit, sondern oft auch richtig viel Geld. Denn ohne Zuzahlung bekommt man häufig nur einen Auszug aus seiner Patientenakte ohne jede Erläuterung, und das wird von der Rentenversicherung nicht akzeptiert. Ein richtiger Arztbrief kostet dann gern auch mal 80 Euro aus eigener Tasche und dauert locker 6 Wochen. Das ist besonders nervig, weil im Antragsverfahren viele Abhängigkeiten zwischen Verwaltungsschritten, unterschiedlichen Abteilungen und sogar Behörden bestehen. Mit einer Krankheit, die kognitive Einschränkungen mit sich bringt, wird das ähnlich anstrengend wie ein Marathon. Nur ist hier nicht klar, wie weit die Ziellinie eigentlich entfernt ist oder ob sie überhaupt existiert, und es steht auch niemand am Wegesrand und feuert dich an.

Ein weiterer Aspekt des ganzen Irrsinns: während man als Betroffener beharrlich dagegen ankämpfen muss, nicht als Psycho abgefertigt zu werden, führt der ganze Antragsprozess nahezu zwangsläufig in eine Depression. Man ist gezwungen, sehr intensiv auf seine Symptome zu lauschen, denn jedes neue „Zipperlein“ könnte ein Baustein für die Bewilligung sein die man dringend benötigt, um irgendwie über die Runden zu kommen. Irgendwann wird jedes Zwicken im Zeh dann zu einer echt großen Sache. Und hat man mal einen guten Tag steigt Panik auf, dass dies irgendjemand im Entscheidungsprozess mitbekommen könnte. So werden Phasen in denen es einem besser geht irgendwann zur Bedrohung. Man versucht sie zu verstecken und reduziert Kontakte zur Außenwelt noch mehr. Und jeder einzelne Arztbesuch, jede Begutachtung und jedes Schreiben feuern die Abwärtsspirale weiter an, weil immer zuerst bewiesen werden muss, dass die Krankheit real existiert. Ich habe tatsächlich irgendwann eine Psychotherapeutin mit ins Boot geholt und um Unterstützung gebeten. Blöderweise aber glaubt auch die, dass ich meine Krankheit durch eine schlichte Änderung meines Mindsets loswerden kann und ich den Kampf mit den Behörden gar nicht führen muss (ich führe den ja lediglich aus Sorge, nicht gesehen zu werden). Ich habe den Therapieversuch deshalb abgebrochen und eben noch mehr Energiereserven mobilisiert, um eine Firewall gegen die Depression aufrecht zu erhalten.

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ganz kurz davor war aufzugeben. Nicht-Betroffene können sich das wahrscheinlich gar nicht vorstellen, aber der Punkt war erreicht, an dem der Antragsprozess mehr Energiereserven verbraucht hat als zur Verfügung standen. Auch die Unterstützung durch meinen Mann, meine behandelnde Ärztin und den VdK konnte das nicht mehr retten, die Speicher waren leer. Irgendwann in den letzten zwei Wochen war für mich klar: ich werde bald resignieren, ich werde aufhören mich zu schonen und in Kauf nehmen, dass dadurch alles sehr schnell den Bach runter geht. Aber in dieser kurzen Phase wäre dann ein einigermassen würdevolles Leben möglich und vor allem wäre dieses unerträgliche Ausgeliefertsein endlich vorbei.

Zum Glück aber kam es anders.

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Auch in der letzten Woche war wieder einiges in Sachen Antrag los: Anfang der Woche wollte die Rentenversicherung wissen, wie hoch mein Hinzuverdienst ist. Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten wenn nicht absehbar ist, wie sich meine Erkrankung entwickelt. Und weil es vor allem um die Firma geht, bedeutete die Frage auch wieder den Einsatz einer gehörigen Menge an Hirnschmalz. Schließlich will die DRV ja keine Auswertung des letzten Jahres, sondern eine Prognose für die Zukunft. Aber egal, sollen sie haben. Die Antwort ging noch am gleichen Tag raus, zusammen mit den Unterlagen zum Thema Rollstuhl, denn die waren mittlerweile auch endlich vollständig da.

Freitag abend dann, um kurz nach 19 Uhr, ploppte eine unscheinbare Nachricht in den Mails auf: „ePostfach – neue Nachricht!“. Ich habe schon vor einiger Zeit die Korrespondenz mit der Rentenversicherung auf den elektronischen Weg umgestellt, da hier am Ende der Welt Briefpost nur noch zweimal pro Woche zugestellt wird und ich den Weg zum Briefkasten auch nicht immer schaffe. Der Login ist jedes Mal eine Herausforderung: Ausweis-App auf Laptop und Smartphone starten und hoffen, dass sich beide finden. Dann den Personalausweis ohne jegliches Zittern ans Handy halten, PIN eingeben und mindestens eine Minute regungslos verharren, damit kein Fehler beim Auslesen passiert. Im Posteingang des Renten-Portals wartete dann eine nichtssagende Mitteilung: „Wir haben ein neues Dokument für Sie erstellt“. Ehrlicherweise habe ich mit einer neuen Rückfrage oder gar einer Ablehnung gerechnet, denn sowas kommt typischerweise freitags abends, damit man sich über das Wochenende so richtig ärgern kann bevor man sich montags dann für mehrere Stunden in der Warteschleife niederlässt.

Als ich dann aber den Anhang öffnete, war ich sprachlos. Auf der ersten von 30 Seiten prangte die Überschrift „Rentenbescheid„.

Für die nächsten zwei Jahre gewährt man mir die volle Erwerbsminderungsrente. Das kommt unerwartet. Und es nimmt eine riesige Last – nicht nur von meinen Schultern. Wir reden nicht über viel Geld, eigentlich müsste ich ja noch mindestens 20 Jahre bis zur Rente arbeiten. Aber es ist ein regelmässiges Einkommen, losgelöst von Arztterminen und teils undurchsichtigen Auszahlungsmodalitäten wie beim Krankengeld. Die Rente ermöglicht Perspektiven. Vor allem aber schafft sie in den kommenden zwei Jahren Freiräume, innerhalb derer ich mich um meine Stabilisierung und – hoffentlich – eine Verbesserung meines Zustandes kümmern kann. Statt für jeden Mist zum Arzt zu rennen und ständig nach Symptomen zu forschen, kann und vor allem darf ich jetzt wieder optimistisch sein, gute Tage als solche wahrnehmen und genießen. Der Bescheid der DRV verschiebt schlagartig den Fokus weg von Einschränkungen und hin zu Möglichkeiten.

Als Rentner darf ich auch wieder am Arbeitsleben teilnehmen. Da wird nicht viel gehen, denn nach allerspätestens 3 Stunden ohne ausgiebige Ruhepause ist Schluss. Aber so habe ich zumindest wieder die Chance, den Anschluss nicht zu verlieren für den Fall, dass in ein paar Jahren endlich eine Behandlung existiert. Es fühlt sich einfach gut an zu wissen, dass ME/CFS nun nicht zwangsläufig in den Abgrund führen muss. Es gibt nun ein Rettungs-Seil, das zwar zum Rausziehen noch zu dünn ist, aber zum Festhalten ausreicht. Das ist eine unglaubliche Erleichterung.

Warum nun ausgerechnet mein Antrag so viel schneller und unkomplizierter erfolgreich bearbeitet wurde, kann ich nicht sagen. Von Vorteil ist sicher, dass meine Ärztin in Sachen ME/CFS einen sehr guten Ruf genießt und einiges an Erfahrung mitbringt. Auch der VdK stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Ich selbst habe immer darauf geachtet, in meiner Korrespondenz mit der DRV so ausführlich wie möglich meine Einschränkungen im Arbeitsleben zu beschreiben und nicht meine Symptome und Diagnosen, und im Selbsteinschätzungsbogen konnte ich mich sehr konkret auf die Erfahrungen meines Wiedereingliederungs-Versuches beziehen (der war also doch für was gut). Vielleicht aber war es auch einfach nur Glück und ich bin an Sachbearbeiter geraten, die sich mit der Erkrankung auskennen. Wir werden es wohl nie erfahren.

Ich für meinen Teil bin unglaublich erleichtert und wieder ein ganzes Stück optimistischer was meine Zukunft angeht. Möglicherweise ist auch die Entscheidung meines Falles ein Zeichen dafür, dass bei der DRV ein Umdenken begonnen hat. Für alle anderen Betroffenen wäre das wirklich mehr als wünschenswert. Für mich selbst läuft nun der nächste Behörden-Kampf weiter, denn das Versorgungsamt sieht meine Einschränkungen noch immer nicht als Behinderung. Aber das ist „nur“ wichtig und im Augenblick nicht existentiell.

1 Gedanke zu „Endlich Rentner“

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