Wenn Du heutzutage an einer Krankheit leidest, bist Du nicht einfach nur ein Patient. Eh Du Dich versiehst, bist Du auch potentieller Kunde, Versuchskaninchen, leichtes Opfer oder auch Verbrecher. Schneller als Du glaubst interessieren sich plötzlich Menschen für Dich, von denen Du bis gerade eben noch gar nichts wusstest. Und plötzlich siehst Du Dich mit Herausforderungen konfrontiert, die Du gerade so gar nicht brauchen kannst.
Unmittelbar nachdem ich in der Rhein-Zeitung meine Geschichte öffentlich gemacht hatte, brach die Hölle los. Auf ausnahmslos allen Kommunikationskanälen wurde ich bombardiert mit allem möglichen Kram. Es ist nicht so, dass ich das vorher nicht kannte. Aber jetzt kam es geballt, was ich zum Anlass nehmen möchte das hier noch einmal zusammenzufassen (was nicht heisst, dass das hier ein kurzer Text wird!). Fangen wir mal mit den „Schwurblern“ an.
ME/CFS und die „COVID-Conspiracy“
Erkrankst Du heutzutage an ME, ist oft (aber nicht immer) COVID in irgendeiner Form beteiligt. Meist war die Infektion selbst der Auslöser, in anderen Fällen hat die Impfung den Grundstein gelegt. Wie auch immer: fast sofort kommen Menschen um die Ecke, die darin das Ergebnis einer großen Verschwörung sehen und reflexartig anfangen, über die Zeit der Pandemie, über Maßnahmen und Versäumnisse der damaligen Politik und von „Big Pharma“ zu philosophieren.
Statt sich mit den Problemen von ME-Patienten im Hier und Jetzt auseinanderzusetzen, starten unverzüglich Tiraden gegen die Politik, gegen Impfungen und – besonders prickelnd: gegen Geimpfte. Du bist auf einmal selber Schuld an Deinem Zustand, weil Du als Schlafschaf damals der Politik blind hinterhergerannt bisst und Dir „Deine Bratwurst“ abgeholt hast. Es wird aufs Übelste und in schlimmstem Ton gegen Politiker und Wissenschaftler, aber eben auch und besonders gegen Dich als Patient geschossen. So richtig zum Opfer wirst Du, wenn Du geimpft bist. Dass zwischen Impfung und ME-Erkrankung in Deinem Fall keinerlei Korrelation besteht spielt überhaupt keine Rolle, denn der Schwurbler weiss es auf jeden Fall besser und ist in seinem Wahn und vor allem in seinem Hass mit Fakten völlig überfordert.
Ganz arm dran sind dann die ME-Patienten, die ihre Erkrankung tatsächlich als Impfkomplikation entwickelt haben. Neben vereinzeltem leisen Mitleid bekommen die dann die volle Breitseite in Form von „selber Schuld“-Häme und Mitläufer-Vorwürfen.
Fakten in Form von Quellenangaben, Studienergebnissen etc. können diese Schwurbler übrigens nie liefern. Niemals. Fragt man gezielt nach Belegen, sind sie meistens einfach weg oder kommen mit anekdotischer Evidenz aus dem Freundes-, Familien- oder YouTube-Academy-Kreis. So etwas nachzuverfolgen dauert Stunden und ist meist ergebnislos, während „echte“ Studienergebnisse in der Regel mit ein paar Klicks zu finden sind. Aus Sicht des Schwurblers sind die dann aber ausnahmslos immer manipuliert und vom „System“ bezahlt. Eine Antwort auf die Frage wer „das System“ eigentlich ist und was es davon hätte eine Krankheit auszulösen, die es anschließend selber Milliarden kosten wird, bleibt ausnahmslos immer unbeantwortet.
Mich macht das wütend. Es ist mittlerweile unmöglich geworden öffentlich eine Diskussion zum Thema ME zu führen, weil ausnahmslos immer irgendwelche Hater und Intelligenzallergiker auftauchen und die Diskussion weg von einer zielführenden Debatte und hin zu einem Tanz um ein vermeintliches Problem lenken. Betroffene, deren Energie im besten Fall für eine sachliche Auseinandersetzung gerade eben so ausreicht, werden mit emotional überladenem Schwachsinn und Hass komplett überfordert und mundtot gemacht.
Damit ist niemandem außer dem Schwurbler selbst geholfen, der sich durch die Erniedrigung von Schwächeren sein eigenes Ego ein bisschen aufpoliert. Auf der Strecke bleibt die sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Das ist weit mehr als nur ärgerlich: es ist gefährlich. Denn auch Ärzte oder andere Entscheider im Gesundheitswesen sind Menschen, deren Meinung und Einstellung durch solche fehlgeleiteten Diskussionen beeinflusst werden. Und fatalerweise können wir Informationen umso besser speichern, je stärker sie mit Emotion beladen sind. Ich hoffe inständig, dass Mediziner sich ihr Wissen nicht aus Social Media beschaffen, aber in Sachen Awareness sind wir aktuell eben in den allermeisten Fällen noch weit vor der Wissensbeschaffung. Zunächst muss ja ein Interesse da sein, sich die Information auch zu holen. Und wenn fast überall nur albern-unsachliche Debatten zum Thema grassieren, ist es da mit der Motivation schwierig.
Hinzu kommt: die Algorithmen von Social Media arbeiten nicht auf Basis von inhaltsbezogener Evidenz, sondern ermitteln die Relevanz eines Beitrags anhand der Interaktionen. Je lauter und emotionsgeladener diskutiert wird, desto häufiger wird ein Beitrag angezeigt, und die lautesten (nicht die wichtigsten!) Beiträge landen ganz oben. Das Gezeter der Schwurbler verfälscht somit völlig das Bild und führt jeden Versuch ordentlicher Awareness sehr schnell ad absurdum. Als selbsternannte „Wahrheitsfinder“ hebeln sie auf diesem Weg alle faktenbasierten Mechanismen konsequent aus.
Während ich das hier schreibe bemerke ich, wieviel Schaden die „Diskussionskultur“ der Schwurbler und Hater bei mir selbst schon angerichtet hat. Ganz unbewusst entsteht das Gefühl, dass jeder Fakt eine Rechtfertigung braucht. Schreibe ich, dass ich ME nicht von der Impfung bekommen habe, fühle ich mich dazu gezwungen sofort klarzustellen, dass das bei Anderen durchaus der Fall sein kann. Um nicht ständig in die Falle derer zu tappen, die selbst ständig rufen man dürfe nichts mehr sagen, lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Statt zum Thema ordentlich zu kommunizieren führt man – aus bloßer Rücksicht auf die Rücksichtslosen – einen ständigen Tanz ums Goldene Kalb auf. Traurig.
Die Geheimniskrämer
Jetzt wird es richtig perfide. Es dauerte nach der Beitrags-Veröffentlichung auf der Facebook-Seite der Rhein-Zeitung keine Stunde, bis die ersten Nachrichten über den Messenger eintrudelten die mir Heilung versprachen. Am Ende waren es über 20 Nachrichten, die allesamt mit so etwas Ähnlichem anfingen wie „wenn es etwas gäbe, was Deinen Zustand verbessern würde – wärest du daran interessiert?“. Und bei sowas bin ich sofort alarmiert.
Wenn es etwas gäbe, was den Zustand von ME/CFS-Patienten nachweislich verbessert, dann wüssten wir Betroffenen das. Wir sind ziemlich gut in Selbsthilfegruppen organisiert, in denen Studienergebnisse fast immer schneller unterwegs sind als in der Welt der Mediziner. Und wenn Du, lieber Nachrichten-Absender, etwas hättest, dann wärest Du jetzt steinreich und würdest Marketing-Kampagnen fahren, anstatt mich mühsam und heimlich zu recherchieren und über den Messenger zu kontaktieren.
Auf ein paar dieser Nachrichten bin ich eingegangen um zu sehen, was dahintersteckt. In keinem einzigen Fall bekam ich über den Messenger selbst eine Antwort auf die Frage, was mir denn nun helfen wird. Immer sollte ich erst telefonieren oder ich wurde zu einem Video-Meeting eingeladen. Und dann begannen die Verkaufsveranstaltungen. Für irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel oder Ernährungs-Programme, die faktisch nichts mit ME zu tun haben und die immer irgendwelche Schneeballsysteme waren. In dem Augenblick, in dem ich anfing ein wenig kritisch zu hinterfragen, schlug der Ton von verständnisvoll-säuselnd auf vorwurfsvoll-verächtlich um. Immer.
Ganz ehrlich: das ist moralisch verwerfliches Marketing. ME-Betroffene haben von zwei Dingen in der Regel sehr wenig: Energie und Geld. Sie über das Prinzip Hoffnung zu ködern, ihnen unerprobte, überteuerte und oft genug nicht ungefährliche Methoden zu verkaufen, sie in ein Schneeball-System zu binden und abhängig zu machen ist das Gegenteil von Hilfe. Radikale Fastenkuren oder Ernährungsumstellungen als Allheilmittel anzubieten ist für Betroffene ohne ärztliche Begleitung riskant, und die meisten der ach so tollen Nahrungsergänzungsmittel sind für einen Bruchteil des Geldes im Drogeriemarkt zu bekommen.
Da in so einem Schneeball-System ja jeder Teilnehmer nur dann profitiert wenn er selber auch gut verkauft, sind mittlerweile auch diverse Selbsthilfegruppen voll von überteuertem Kram, und es wird immer schwieriger zwischen echten Erfahrungsberichten und geschickter Verkaufsstrategie zu unterscheiden. Damit wird uns Betroffenen ein echter Bärendienst erwiesen.
Anekdoten für einfache Lösungen
Die Gruppe ist auch irgendwie immer dabei, meint es vermeintlich sogar gut und macht sich gar keine Vorstellung davon, wieviel Schadpotential ihre Tipps und Anekdoten haben. Sie sind auch in Selbsthilfegruppen gern ganz vorn mit dabei, wo sie gerne auch mal derart tapsig wirken, dass man sie am Liebsten doch gern haben wollen würde.
Da kommen ungefragt Einzelfallberichte von Menschen, die auf irgendeinem Weg doch raus gekommen sind aus ME. Solche Fälle gibt es tatsächlich und die wären prinzipiell auch interessant, wenn nicht die allermeisten Fälle bei näherer Betrachtung gar keine gesicherte ME-Diagnose gehabt hätten. Und die ist gleich das nächste Problem, denn bei einer so gut wie unerforschten Erkrankung wie ME ist eine „gesicherte“ Diagnose nur sehr schwer zu stellen. Dann kommt noch hinzu: das Erscheinungsbild von ME ist in seiner Gänze so unglaublich vielfältig, dass Lösung A vielleicht bei Patient X funktioniert, Patient Y darüber aber total crasht.
Auch tolle Tipps wie die in letzter Zeit maximal gehypte Darmsanierung, irgendwelche Kräuterchen oder Vagus-Stimulatoren werden gern angeboten. Und das oft vielleicht sogar, weil sie jemandem Linderung gebracht haben. Blöd wird’s, wenn solche schnellen und einfachen (vermeintlichen) Lösungen als das absolute Heilmittel verpackt werden. Es mag durchaus sein, dass eine Behandlung dem Tipp-Verfasser wirklich geholfen hat. Es mag sogar sein, dass auch andere positive Effekte daraus ziehen können. Aber wäre es wirklich die eine Lösung für alle Betroffenen, dann wüssten wir das.
Mittlerweile reagiere ich auch auf solche Beiträge wirklich allergisch, vor allem wenn sie im belehrenden Ton der Überzeugung verfasst sind (was sehr oft der Fall ist). Hier wird eine Gefahr wirklich fahrlässig unterschätzt: vermeintlich einfache Wege sind oft komfortabler als etablierte Behandlungsverfahren, bei denen es manchmal Monate voller Nebenwirkungen dauern kann, bis ein Medikament endlich Wirkung zeigt. Im absoluten ME-Frust wird dann schnell mal entschieden, die ärztliche, mitunter auch teure Behandlung abzubrechen und dann doch lieber auf einen Tipp aus der Facebook-Universität zu vertrauen.
Nicht falsch verstehen: ich möchte keine Tipps und Erfahrungsberichte in Selbsthilfegruppen verbieten. Aber es ist ganz unbedingt eine Frage der richtigen Formulierung. Ganz besonders in einem Umfeld mit volatilen und verzweifelten Mit-Betroffenen muss das Prinzip „Vorsicht“ gelten und man sollte seine Erfahrungen auch als solche verpacken – nicht als neues Heilmittel.
Heilsversprecher
Outet sich ein Betroffener öffentlich und hat er in seinem Beitrag erstmal ausreichend Mit-Betroffene um sich geschart, dann dauert es nicht lange und findige Heiler wittern ihre Chance auf neue Kundschaft. In meinem Fall waren es ganz überwiegend Heilpraktiker, die mich – teils sogar telefonisch – kontaktierten um mir das Blaue vom Himmel zu versprechen.
Vorab: ich habe nichts gegen Heilpraktiker an sich. Eine ganzheitliche Herangehensweise ist etwas, was den meisten Schulmedizinern fehlt, und das ein oder andere pflanzliche Präparat ist wirklich potent. Bei einigen Methoden bin ich als eher wissenschaftlich orientierter Mensch einfach raus, aber damit ist ja nicht alles schlecht, was die Heilpraktiker so veranstalten. Aber offenbar gibt es in diesem Berufsstand deutlich mehr schwarze Schafe als gedacht.
Mir wurden Behandlungen angeboten wie Wärme- oder Kältetherapie, verschiedenste pflanzliche Präparate, oder auch eine „Antlitz-Diagnostik“ um meine „wirklichen“ Probleme ausfindig zu machen. Das ganze passierte nicht etwa im Rahmen eines Termins, sondern wurde mir per Social Media oder am Telefon als die ultimative Lösung mit garantiertem Erfolg angeboten. Und nicht nur einmal: innerhalb von 3 Wochen bekam ich gute 30 solcher Angebote, immer kombiniert mit dem Versprechen auf Heilung oder Linderung.
Abgesehen davon, dass verschiedene Gesetze auch Heilpraktikern diese Form von Werbung verbieten: wie könnt ihr auf der einen Seite behaupten den Patienten als Ganzes zu betrachten, nur um dann mit der Gießkanne irgendwelche Gerätschaften oder Pillen auf mich loszulassen? Da ist ja selbst die 40-Sekunden-Anamnese beim Hausarzt ausführlicher und zielführender, denn der sieht mich währenddessen wenigstens. Ihr kennt mich und meine Symptomatik nicht und glaubt, eine passende Behandlung zu haben? Sportlich.
Es mag gut sein, dass der ein oder andere Patient mit eurer Wärmebehandlung gut gefahren ist. Andere aber nicht: bei mir reicht ein sommerlicher Temperatursprung aus, um einen wochenlangen Crash mit Spätfolgen auszulösen. Eine Mitpatientin hingegen erholt sich im Juli am lodernden Kamin.
Übrigens: keiner dieser Heilsversprecher hat mir seinen Namen genannt, bevor ich nicht zumindest Interesse geheuchelt habe. Keiner von denen, die mir irgendwelche pflanzlichen Präparate aufschwatzen wollte (Telefonverkauf!) hat danach gefragt was ich sonst noch so einnehme oder ob ich irgendwelche Unverträglichkeiten habe. Meine Lieblingsantwort auf eine kritische Frage war: „ach, das ist sicher. Ist ja nur geschreddertes Gemüse“. Leute – ernsthaft? Wie verantwortungslos kann man auf der Suche nach Langzeit-Kunden nur sein?
Ganz besonders wütend bin ich, weil es die ach so besonnenen und fürsorglichen Heilpraktiker sind, die in den meisten Fällen so richtig emotionalen Druck aufbauen. Ein „nein danke“ von meiner Seite wurde in allen Fällen mit Kommentaren wie „gesund werden ist eine bewusste Entscheidung. Wenn sie das nicht wollen, dann ist das in Ordnung für mich“ quittiert. Sorry, das ist ein absolutes No-Go.
Auch hier gilt: die schwarzen Schafe riskieren den Ruf ihres gesamten Berufsstandes, und sie spielen mit unserer Gesundheit und unserem Geldbeutel.
Ein Fazit
Wer im Netz in Sachen ME unterwegs ist, muss vorsichtig sein. Längst nicht jeder meint es auch gut, und selbst die Gut-Meiner liegen oft genug daneben. Wirklich jede Information, die man sich greift, sollte so gut wie möglich gegengeprüft und im Idealfall mit dem Arzt besprochen werden, bevor man sie umsetzt. Das ist anstrengend und manchmal aufgrund des eigenen leeren Akkus auch nicht möglich. Dann aber besser die Entscheidung vertagen oder an jemanden abgeben, dem man wirklich vertraut.
Gegen die Schwurbler ist schlicht kein Kraut gewachsen. Sie zu korrigieren ist aussichtslos, wohl aber sollte man dafür sorgen dass ihre Falschinformationen gedämpft werden. Sie gewinnen sonst in der algorithmischen Gewichtung zu viel Wert und werden dann viel zu schnell für bare Münze genommen. Hier ständig einzugreifen fühlt sich an wie ein Kampf gegen Windmühlen, Wenn den aber keiner führt, sind wir irgendwann alle verloren und die Dummheit siegt endgültig.