Die Rente ist zwar erst mal durch, damit ist aber der bürokratische Irrsinn noch lange nicht vorbei. Es geht munter weiter, wenn auch – zum Glück – ohne existentiellen Druck:
Vorgestern war der „Tag der nicht sichtbaren Behinderungen“, und ganz aktuell zeigt sich mal wieder wie wichtig es ist, auf so etwas hinzuweisen. Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung hat auf meinen Widerspruch geantwortet und mir einen neuen Bescheid zugestellt. Statt eines GdB von 20 erkennt man mir nun – nachdem nochmals alle Befunde mit allen Einschränkungen sowie sehr ausführlich die Notwendigkeit des Rollstuhles vorgelegt wurden – einen GdB von 30 zu. Aufgrund einer psychischen Störung.
Wie das Amt zu dieser Einschätzung gelangt, ist nicht nachvollziehbar. Denn direkt nach dieser Einordnung folgt der Absatz:
Folgende Gesundheitsstörung(en) sind in den festgestellten Beeinträchtigung(en) berücksichtigt: Gehbehinderung, körperliche und kognitive Erschöpfung, Chronisches Fatigue-Syndrom, Post-Covid-Syndrom
Faktisch aber wurde nichts davon berücksichtigt. Von insgesamt 10 vorgelegten, gesicherten Diagnosen mit Einschränkungen bei der Teilhabe wurde lediglich die letzte (F54: Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten) überhaupt bewertet, die außer auf einer Krankmeldung sonst nirgends auftaucht.
Weiter geht es mit Erläuterungen:
Menschen mit Behinderungen im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Anscheinend sind Menschen mit ME/CFS, die ihr Leben in Zeitlupe verbringen um nicht vollends zu verschwinden, aus Sicht der Entscheider nicht an der Teilhabe gehindert.
Ich habe gemeinsam mit meiner behandelnden Ärztin eine GdB von 70 mit Merkzeichen G als „Mindestforderung“ im Widerspruch angegeben. Das gäbe ziemlich gut meine aktuellen Einschränkungen aufgrund PEM, orthostatischer Dysregulation, Belastbarkeit und Schmerzen wieder und würde mir im Alltag einige Dinge zumindest erleichtern. Das Amt sieht das aber anders:
Ein GdB von 50 kann nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen beispielsweise nur angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich ist, wie etwa beim Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, bei Herz-Kreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit nachgewiesener Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung, bei Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung.
Derart gravierende Gesundheitsstörungen, die eine Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft, vergleichbar mit der eines schwerbehinderten Menschen im vorstehenden Sinne begründen, sind den ärztlichen Befundunterlagen nicht zu entnehmen.
Hier beginnt bei mir und auch bei den Fachleuten des Sozialverband VdK das große Kopfschütteln: das Versorgungsamt zitiert aus der Versorgungsmedizin-Verordnung Beispiele, die eigentlich bestens geeignet wären, Teilhabebeeinträchtigungen bei ME/CFS zu beschreiben („Leistungsbeeinträchtigungen bereits bei leichter Belastung“). Nur um sie dann zu negieren.
Es wird insgesamt sehr deutlich, dass hier schlampig gearbeitet wurde. Bei der Feststellung des Grades der Behinderung muss das Versorgungsamt die gegebenen Einschränkungen sachlich prüfen und würdigen, nicht einfach nur Diagnosen in der Tabelle suchen und Punkte addieren. Genau das aber wurde gemacht, und die einzige Diagnose die sich wörtlich in der antiquierten Tabelle der Versorgungsmedizin-Verordnung finden lässt, ist „irgendwas mit Psyche“. Das Amt war sogar derart schlampig, dass der Verweis auf die medizinische Notwendigkeit eines Rollstuhles schlicht ignoriert wurde.
Laut meiner Ärztin sind die Versorgungsämter seit der verheerenden (und aus wissenschaftlicher Sicht falschen) Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie derzeit sehr schnell darin, ME/CFS als „psychische Störung“ abzutun. Das zeigt einmal mehr, welch gravierenden Schaden „Fake News“ anrichten können. Ich habe jetzt das zweifelhafte Glück, dass (im Gegensatz zur Erwerbsminderungsrente) der GdB für mich persönlich aktuell nicht „kriegsentscheidend“ ist. Er würde „nur“ das Leben mit ME/CFS erleichtern. Spätestens aber, wenn in zwei Jahren meine Rente neu beantragt werden muss, bekommt er existentielle Relevanz.
Deshalb bleibt nun nur die Klage vor dem Sozialgericht, und das wird voraussichtlich nun Jahre dauern. Mit etwas Glück geht es auch schneller, weil mittlerweile zwei Sozialgerichte die Einstufung als „psychische Störung“ gerügt haben. Vor Gericht werden sich nun Anwälte mit dem Problem beschäftigen. Allerdings heisst das für mich (mal wieder!), die komplette Situation völlig fremden Menschen ausführlichst erklären zu müssen. Das wird einmal mehr eine ziemlich herausfordernde Aufgabe werden. Und wieder einmal zeigt sich, dass man mit ME/CFS nur dann Unterstützung vom Staat bekommt, wenn man dafür mit allen Mitteln kämpft. Von der durch das Gesundheitsministerium versprochenen Verbesserung der Versorgungslage ist nichts zu spüren.
Mit diesem Problem stehe ich nicht alleine da: hunderttausende andere Betroffene, teilweise deutlich schlechter dran als ich und nicht nur bei ME/CFS, werden genau so abgeschmettert. Es scheint sich um systematisches Vorgehen gepaart mit schreiender Inkompetenz zu handeln, aber es wird sich nichts ändern, solange das ein Problem ist, das ausschließlich hinter verschlossenen Türen gewälzt wird. Es wirkt als würden die komplett überlasteten Ämter absichtlich schwachsinnige Bescheide verschicken, um die aufwändige und teure Sachprüfung an die Gerichte abzuwälzen. Die Leidtragenden sind die Betroffenen, die statt schneller Hilfe dann einen teils jahrelangen Gerichtsprozess verordnet bekommen.
Für mich ist der ganze Prozess ein deutliches Zeichen dafür, wie wenig interessiert der Staat an Inklusion ist. Mann schnappt sich gern einen „Vorzeige-Behinderten“ wenn es darum geht, Beliebtheitspunkte zu sammeln. In der Praxis aber ist bereits die Anerkennung einer Behinderung ein bürokratischer Albtraum, und auch Maßnahmen zum Barriere-Abbau werden bestenfalls halbherzig umgesetzt. Anerkennung bekommst Du nur, wenn deine Behinderung unübersehbar ist. Sie muss auf den ersten Blick beim Gegenüber Unwohlsein auslösen, um „echt“ zu sein. Zumindest erweckt die Versorgungsmedizin-Verordnung diesen Eindruck. Es geht offenbar gar nicht um Teilhabe-Einschränkungen von Betroffenen, sondern darum wie sehr ein Behinderter in der Gesellschaft stört. Und erst wenn diese Störung zu groß wird, bekommt er dann den Ausweis, mit dessen Hilfe er dann Maßnahmen ergreifen kann, die anderen weniger zu stören. Wenn Deine Behinderung von außen nicht sichtbar ist, dann störst Du nicht und bekommst eben auch keine Hilfe. Das ist ein wirklich trauriges Bild der Realität im 21. Jahrhundert.