Ein einsamer Rollstuhl steht in einem schwach beleuchteten Flur, durch dessen große Fenster im Hintergrund Sonnenlicht fällt und Schatten auf den Boden wirft.

Weil’s nicht mehr geht: Rollstuhl, Teil 1

„Warum brauchst Du denn jetzt einen Rollstuhl? Ist es so schlimm?“ Die Frage kam von Freunden und Familie, als ich auf Suche nach Rat unterwegs war. Ja, offenbar ist es so weit. Und bevor mich wieder jemand in freier Wildbahn erwischt und Fragezeichen auf der Stirn bekommt, erfährst Du hier das Warum.

Seit mehreren Monaten zerbreche ich mir den Kopf, wie ich mal wieder vor die Tür komme ohne gleich wieder zu Crashen. PEM ist für mich ein alltägliches Risiko, und gerade das Gehen ein mittlerweile ziemlich vertrauter und zuverlässiger Trigger. Sich bei sowas Selbstverständlichem wie Fortbewegung zu schonen und innerhalb der eigenen Grenzen zu bleiben klingt einfacher, als es am Ende ist: nicht immer ist ein Signal meines Körpers ein Hinweis darauf, dass es reicht. Immer öfter ist es mittlerweile der Aufschrei: das war zu viel! Und wenn dieser Punkt erreicht ist, muss ich – obwohl es ja schon zu viel ist – den gleichen Weg ja auch irgendwie wieder zurück.

Die erschreckende Erkenntnis: es sind fast immer die wohltuenden kurzen Spaziergänge oder die bis vor Kurzem noch lächerlich kurzen Wege z. B. beim wöchentlichen Einkauf, die mich umhauen. Ob ich das die letzten Monate aus falschem Ehrgeiz erfolgreich verdrängt habe oder ob ich einfach die Signale meines Körpers falsch gedeutet habe, kann ich nicht wirklich sagen. Fakt ist aber: im Schnitt sind lächerliche 300m mittlerweile die Grenze des „schadfrei“ Möglichen, an schlechten Tagen deutlich weniger. Und das kettet mich ohne Unterstützung faktisch ans Haus.

Im Rahmen meines Pacings habe ich seit November ’24 so Einiges dokumentiert, um auch einen Überblick über den Krankheitsverlauf zu bekommen. Apple Watch mit Schrittzähler und Herzfrequenz-Variabilität als Indikator waren dabei eine gute Hilfe. Das ist ein bisschen „nerdy“, aber irgendwie muss das ja objektiv messbar gemacht werden. Und der „Verfall“ in Sachen Mobilität ist leider erschütternd:

Das Diagramm zeigt deutlich, was nach größeren Crashs passiert: mein Maximum sinkt immer weiter. Was das Diagramm nicht zeigt, sind die tatsächlich gegangenen Wege, und da liegt das Problem: 250 Meter sind nix. Wenn Du irgendwo hinfährst um was zu erledigen, sind die Wege eigentlich immer länger. Und du musst ja auch wieder zurück. Für mich bedeutet das: jeder Gang zum Arzt, jeder Termin bei der Physiotherapie, jeder Einkauf ist zwangsläufig eine Überlastung. Und leider bin ich mittlerweile an dem Punkt, wo jede dieser Überlastungen zu PEM führt und damit kontinuierlich meine Belastbarkeit bleibend reduziert.

Wenn ich nicht sehr bald ganz am Boden liegen möchte und gar nicht mehr vor die Tür komme, braucht es eine Lösung zur Entlastung.

Fixe Idee: ein Rollator?

Ganz grundsätzlich steht mir in Sachen Gehhilfen mein Ego im Weg. Wer möchte schon auf der Straße als behindert wahrgenommen werden? Dann will am Ende ja wieder jeder wissen was los ist, ich muss mich erklären, dann rafft das wieder keiner und ich ärgere mich den ganzen Tag darüber. Dazu kommt meine Sorge: ich kann ja noch gehen. Paradoxerweise kann ich ja sogar ohne Konsequenzen kurzfristig Höchstleistungen abrufen. Meine Mitmenschen sehen mich Rasenmähen, sehen, wie ich einen Marktstand aufstelle oder eine Treppe gehe. Dass solche Aktionen fest im Pacing eingeplant sind und ich dafür dann auf Anderes verzichte, sehen die ja nicht. Es sei denn ich erkläre es, und dann sind wir wieder bei diesem Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Habe ich Lust auf solche Gespräche, wenn ich dann eine wie auch immer geartete Gehhilfe verwende um mich zu entlasten?

Deshalb reifte für mich die Idee, einen Rollator als Kompromiss zu nutzen. Denn könnte ich „verstecken“ wenn ich ihn nicht brauche, und wenn es mal zu viel wird, kann ich mich einfach draufsetzen und eine Pause machen. Die Dinger kosten nicht die Welt, und wenn die Krankenkasse wieder rumzicken sollte kaufe ich den einfach aus eigener Tasche. Klingt nach einem Plan.

Dachte ich.

Meine Ärztin belehrte mich eines Besseren: beim Gehen selbst bringt mir der Rollator keine Entlastung oder Kraft-Ersparnis. Mein Radius wird dadurch nicht erweitert. Und wenn die Erschöpfung einsetzt und ich mich zwecks Pause dann draufsetze, ist der Schaden schon angerichtet, die PEM provoziert. Und sollte mal gar nichts mehr gehen und ich auf Hilfe angewiesen sein, ist der Rollator für die Hilfsperson mehr Hindernis als Unterstützung: damit kann mich keiner nach Hause schieben. Sie empfahl einen Rollstuhl.

Der innere Schweinehund

Mikrosekunden nachdem sie diese Empfehlung aussprach, kickte das Adrenalin ins Hirn und ich schaltete sofort in den Verteidigungsmodus. Auf gar keinen Fall ein Rollstuhl, ich bin ja kein Krüppel! Hinsichtlich der Wortwahl einigermaßen diplomatisch in ein „muss ich drüber nachdenken“ verpackt, hinsichtlich des Tonfalls jedoch völlig unangemessen habe ich das Thema binnen Sekunden beendet. Und mich 2 Minuten nach Sprechstunden-Ende dafür furchtbar geschämt.

Es hat dann ganze zwei Tage gedauert, bis die Einsicht kam. Tipps aus der Selbsthilfegruppe, Gespräche in der Familie und eine kurze Reflexion mit der Psychotherapeutin waren nötig, damit ich kapiere: das ist ein guter Weg, dir wieder etwas Freiheit zu geben. Und es ist (neben einfach zuhause bleiben) der einzige Weg, einer kontinuierlichen Verschlechterung bis hin zur Bettgebundenheit entgegenzuwirken.

Entscheidung steht

Ich gebe zu, dass mir die Vorstellung so gar nicht gefällt, mich in freier Wildbahn rollend fortzubewegen. Und ehrlicherweise liegt das in erster Linie daran, dass ich schlicht keine Lust darauf habe ständig erklären zu müssen, warum das so ist. Vor allem nicht, wenn mich die gleichen Leute dann vorher oder nachher gehend sehen und aus Erklären wieder Rechtfertigen wird. Diese Perspektive macht mir ziemlich Angst. Nicht, weil ich nicht in der Lage wäre aufzuklären, sondern weil ich weiss wieviel Energie das kosten wird und wie sehr das wieder den ME-Unverständnis-Frust triggern kann.

Es hilft aber nichts. Die Alternative wäre Rückzug, und der ist zum einen total unrealistisch (für Vieles muss ich ja raus), zum anderen eben auch das Gegenteil meiner Vorstellung eines Lebens. Das bisschen was noch geht möchte ich ja mitnehmen und genießen können. Vielleicht auch mit meinem Mann mal wieder gemeinsam etwas unternehmen, Freunde treffen oder einfach nur mal was anderes sehen als die 200 Meter rund ums Haus. Ganz vielleicht hilft der Rolli sogar dabei, meinen Zustand auf einem Niveau zu stabilisieren, auf dem ich wenigstens ein paar Stunden in der Woche wieder meinem Job nachgehen kann, denn den vermisse ich doch ziemlich. Wenn ich so weitermache wie bisher, wird das alles nix.

Für die Arbeit in der eigenen Manufaktur brauche ich den Rollstuhl nicht. Als hätte ich beim Bau schon eine Vorahnung gehabt, habe ich mir von vornherein alles unter dem Aspekt maximalen Energiesparens gebaut. Das hilft aber auch nichts, wenn der Rest des Alltags mich wieder in den Crash gebracht hat. Denn dann geht gar nichts.

Fazit: das Ding muss her, und zwar bald. Allem inneren Widerstand zum Trotz brauche ich ein Werkzeug, dass in Sachen Fortbewegung Energie spart um diese dort zur Verfügung zu haben, wo ich sie brauche. Unabhängig von dem ganzen anderen Käse mit Behörden und Kostenträgern, der gerade immer noch läuft und meinen Zustand vollkommen negiert, braucht es jetzt eine Unterbrechung der Abwärtsspirale.

Infos sammeln

Bevor ich das Thema wieder total zerdenke, habe ich mich dann auf den Weg ins Sanitätshaus gemacht. Denn es gibt offene Fragen: welche Modelle gibt es, wie funktioniert das mit der Krankenkasse, was kostet mich der Spaß? Mein Gang führte mich nach Koblenz ins Rollstuhlzentrum von Burbach & Goetz. Auch ohne Termin bekam ich hier eine gute Erstberatung und vor allem detaillierte Infos zum Ablauf.

Aus den Tipps aus der Selbsthilfegruppe und mit ein wenig Nachdenken wurde schnell klar, dass ein manueller Rollstuhl bei ME/CFS wenig Sinn macht. Es geht ja nicht ums Vorwärtskommen, sondern ums Energiesparen. Würde ich die Kraftanstrengung lediglich aus den Beinen in die Arme verlagern, gäbe mir das keinerlei Unterstützung. Und ich habe eben nur in Ausnahmefällen jemanden bei mir, der Schieben könnte – mein Mann muss ja irgendwann auch unsere Brötchen verdienen. Modelle mit „Hilfsmotor“ sind zwar verglichen mit einem E-Rolli „sexy“, aber wir wohnen nunmal in der Eifel, und ich werde mich hier mit teils ordentlichen Steigungen konfrontiert sehen. Da ich bei den Dingern dann trotzdem die Arme brauche, ist auch hier der Nutzen eher fraglich. Es bleibt also nüchtern betrachtet nur die vollelektrische Lösung übrig. Maximal uncool, aber zweckmäßig.

Aus der Beratung ergab sich für mich eine Aufgabe: ich brauche eine Verordnung vom Arzt. Und da hatte ich ja verkackt: zum Einen habe ich das Thema in der Sprechstunde ja ziemlich barsch abgeblockt, zum Anderen ist die Praxis derart überlastet, dass die Anforderung der Verordnung jetzt wieder Tage oder Wochen beanspruchen wird. Da steigt bei mir das Frustrationslevel, denn jetzt mischt sich Scham mit Ungeduld und Ungewissheit: über das Thema „manuell“ oder „elektrisch“ hatten wir ja in der Sprechstunde gar nicht mehr gesprochen. Wird das klappen? Muss ich hier womöglich noch diskutieren? Und nicht zuletzt: wieviel Drama wird es wieder mit den Kostenträgern geben, für die meine Erkrankung ja immer noch ein rein psychisches Problem ist?

Zeitdruck

Ich habe in der Sache ein wenig Stress. Zum größten Teil hausgemacht, aber das ändert nichts daran, dass er da ist. Da ist einmal das ganz konkrete Problem: jeder Gang macht mich kranker. Ich hänge jetzt in Woche 4 eines Dauercrashs, und die Behandlungen die mir helfen (wie Physiotherapie oder Lymphdrainage) finden 10km entfernt statt. In Ermangelung einer anerkannten Schwerbehinderung latsche ich dann nach der Fahrt mit dem Auto noch vom oft recht weit entfernten Parkplatz (vorbei an 5 immer freien Behinderten-Parkplätzen direkt vor der Tür…) in die Praxis, und nach der Behandlung wieder zurück. Die Folge: den Rest des Tages und meist auch noch am folgenden Tag geht nichts mehr, und statt von der Behandlung zu profitieren kämpfe ich anderthalb Tage mit PEM-bedingten Schmerzen und liege im Bett. Das muss so schnell wie möglich aufhören, denn insbesondere in den letzten Wochen sinkt die Toleranzschwelle so schnell wie nie zuvor.

Das andere, eher „persönliche“ Thema: für meine eigene Firma KingBEAR beginnt die Marktsaison, und die dauert bis Weihnachten. An nahezu jedem Wochenende haben wir einen Markt oder eine Veranstaltung. Ich kann da nicht mehr wirklich aktiv mitarbeiten und muss den Großteil der Arbeit an meinen Mann abgeben. Aber ich wäre gern zumindest hin und wieder dabei, denn sonst sehen wir uns bis Weihnachten nur noch stundenweise unter der Woche. Zum Essen, Schlafen und Probleme wälzen. Ich möchte gern wieder die Chance haben, gemeinsam Zeit zu verbringen. Die Aussicht, dies bis Weihnachten nicht mehr zu können, ist mehr als frustrierend.

Unerwartetes Glück

Diesen Zeitdruck und meine innere Abwehrhaltung im Kopf fragte ich im Sanitätshaus nach, ob ein Test des Rollstuhls für ein paar Tage live und am besten über ein Markt-Wochenende möglich sei. So kann ich mich selbst davon überzeugen, welche Entlastung mir der Rolli bringt, kann testen ob er meinen Anforderungen gerecht wird und am Ende – wenn es um die Bestellung geht – ohne langes Rumprobieren sagen: der wird es. Ich kenne mich: wenn das Ding nicht 100% passt, werde ich ihn so lange nicht nutzen, bis gar nichts mehr geht. Und dann wäre es zu spät. Mit einem ausgiebigen Test könnte ich die Zeit überbrücken bis die Verordnung da ist, Argumente für die Begründung sammeln und im besten Fall auch schon Erfahrungen sammeln, die mir bei einer (eher wahrscheinlichen) Ablehnung durch die Krankenkasse bei der Argumentation helfen. So ganz ohne Erfahrung könnte das schwierig werden.

Im Beratungsgespräch hatte ich bereits nach einer Möglichkeit zum Testen gefragt. Dies sei Möglich, denn man kann dort Rollstühle auch mieten. Die Kosten dafür waren fair, allerdings aufgrund ziemlich hoher Ausgaben für Medikamente im vergangenen Monat für mich auch – vorsichtig formuliert – herausfordernd. Da mein Berater sich mit ME/CFS nicht auskannte, packte ich zu meiner Test-Anfrage noch ein paar allgemeine Infos sowie mein ganz persönliches Beschwerdeprofil hinzu und bat um ein schriftliches Angebot für die Miete. Und dann geschah ein kleines Wunder.

Ich bekam eine unglaublich nette Antwort per Mail. Mein Berater zeigte sich schockiert über die Versorgungslage und die ständige Verweigerung von Unterstützung für ME/CFS-Patienten durch die Kostenträger. Ich bekam das Versprechen, dass er mich im Zweifel auch durch Widerspruchsverfahren so lange begleitet, bis ich das Ding unter dem Hintern habe. Als dann noch das Angebot kam, den Rollstuhl über ein verlängertes Wochenende kostenlos testen zu können, kullerte mir doch tatsächlich zum ersten Mal in meiner ME-Geschichte ein Tränchen aus dem Auge. Eine solche Unterstützung – und sei sie zum jetzigen Zeitpunkt auch „nur“ ein Versprechen – habe ich in all der Zeit von keiner Seite erfahren. Keine Bedingungen, keine Vorbehalte, keine Zweifel, sondern einfach nur ein „wir packen das jetzt an“. Ganz ehrlich: daran könnten sich sehr viele im Gesundheitswesen gern ein Vorbild nehmen. Es ist nicht nur die konkrete Hilfe, sondern auch die Gewissheit: du musst nicht all deine Probleme alleine lösen, obwohl du dazu gar nicht mehr in der Lage bist. Beim Rentenantrag gab es ein Feld, in dem ich angeben sollte welche Maßnahmen mir bis jetzt gutgetan haben. Der Antrag ist leider schon raus, ich hätte diese Mail mit reingeschrieben. An erster Stelle einer sehr kurzen Liste.

Wie es weitergeht

Während ich auf die Verordnung warte, kommt als nächstes mein Test. Über das Wochenende auf der Herbstpartie in Namedy kann ich den Rolli im „Geländeeinsatz“ ausprobieren, wenn ich vor Ort bin. Ich werde mal zuhause meine Runden drehen, schauen wie ich das mit dem Ein- und Ausladen ins Auto hinbekomme, und auch wie das beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Physio funktioniert. Denn all das findet in diesem Zeitraum statt. Meine Einstellung ist noch recht ambivalent, ich freue mich auf neue Erkenntnisse und die Aussicht auf mehr Freiheit, gleichzeitig schüchtert mich die Situation ziemlich ein. Ich lass das mal auf mich zukommen.

Nach dem Test weiss ich, ob das Modell welches wir rausgepickt haben auch wirklich für mich passt. Da bin ich recht optimistisch, denn so wirklich komplizierte Anforderungen habe ich ja nicht. Schließlich funktionieren meine Beine ja noch, ich muss sie nur entlasten. Vorrangig ist für mich lediglich die Praxistauglichkeit entscheidend: komme ich mit der Bedienung klar, schafft die Kiste auch mal eine Steigung, fährt sie auch auf unbefestigten Wegen sicher und klappt das mit dem Zusammenfalten und Verladen?

Wenn dann die Verordnung da ist, folgt der Antrag bei der Krankenkasse. Den stellt das Sanitätshaus, nachdem sie sich auch mein Wohnumfeld genau angesehen haben. Was dann seitens der Krankenkasse passiert, ist vollkommen offen. Andere Betroffene berichten auch hier von Ablehnung und langwierigen Widerspruchsverfahren, es gibt aber auch Fälle in denen alles reibungslos und schnell vonstatten ging. Ich hoffe auf ein kleines bisschen Glück, wenigstens dieses eine Mal.

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