Am vergangenen Wochenende hatte ich die Gelegenheit, einen elektrischen Rollstuhl unter Real-Bedingungen zu testen. Für mich war dieser Schritt wichtig um zu sehen, ob mir diese Unterstützung einen Nutzen bringt, ob ich meine eigene Hemmschwelle überwinden kann und ob so ein „Feuerstuhl“ wirklich auch unter „Outdoor-Bedingungen“ wie unseren Märkten mit KingBEAR funktioniert.
Den ersten Teil der Rollstuhl-Geschichte kannst Du hier nachlesen.
Funktion
Der Ergoflix ist faltbar und mit 25kg für mich noch ganz gut zu verladen. Ein Manko ist allerdings, dass er im gefalteten Zustand nirgends einrastet. Dadurch muss man sehr weit um den Rollstuhl greifen um ihn über die Ladekante in den Kofferraum zu bekommen. Am Ende werde ich aber ohnehin in eine Rampe investieren. Die ist einigermaßen erschwinglich, und was soll ich mir unnötig den Rücken kaputt machen?
Die Bedienung ist recht simpel: zwei Knöpfe zum Einstellen der Maximalgeschwindigkeit und ein wirklich fein regulierbarer Joystick. Da ist man ziemlich schnell drin. Bescheuert ist die so genannte „Hupe“. Das klägliche Piepsen – nicht lauter als das Piepen bei jedem anderen Tastendruck – macht wirklich niemanden aufmerksam. Besonders dort wo viele Menschen sind und es etwas lauter ist kann man sich den Druck auf die Taste auch schenken. Der Ergoflix ist sehr wendig, mit etwas Übung am Joystick kann man ihn auch auf einer Briefmarke wenden.
Die Motoren sind kräftig und kommen auch im Gelände ordentlich und zuverlässig vorwärts. Selbst größere Steigungen sind kein Problem, und der Ergoflix zockelt Berge hinauf ohne dass man Angst haben muss zu kippen. Für’s Gelände hätten die Antriebsräder vielleicht noch etwas mehr Grip vertragen können, auf nassem Untergrund drehen sie schonmal durch. Die Steuerung kompensiert das aber gut, so dass man immerhin nicht immer Karussell fährt. Der Sitz ist bequem genug, um auch den ganzen Tag darin sitzen zu können. Für Menschen mit langen Beinen (so wie ich) empfiehlt es sich, ein zweites Sitzkissen unterzulegen.
Härtetest im Schlosspark
Am vergangenen Wochenende hatte der Rollstuhl kein leichtes Leben. Im Schlosspark sind die Wege in jeder Hinsicht herausfordernd: es gibt Kopfsteinpflaster, tiefen, feinen Kies und unbefestigte Wege über die Wiesen. Das hat alles überraschend gut funktioniert, es erfordert aber doch mehr Übung als ich dachte. Auf den Kieswegen drehen je nach Geschwindigkeitseinstellung die Antriebsräder schon mal durch, und ist man mit einem Rad auf Kies und dem anderen noch auf dem Pflaster, fährt der Rollstuhl gern auch mal wohin er will. Gutes Zielen ist hier gefragt. Auf den Wiesen wurde es sportlich: die waren die reinste Buckelpiste. Aber auch hier kam der Ergoflix gut voran. Auf nassem Gras allerdings wird das Lenken schwieriger, da die Antriebsräder hin und wieder durchdrehen. Mit etwas Übung kein Problem, dennoch wirkte das Ganze zu Beginn wohl eher nach unkoordinierter erster Ballet-Stunde.
Eine echte Erleichterung
Die ersten drei Tage mit Rollstuhl waren anstrengend, denn es gab viel zu Lernen. Nichts desto trotz habe ich den Rolli aber als echten Game-Changer wahrgenommen: die über Tag eingesparten Schritte gaben mir genug freie Kapazität für schöne Dinge wie nette Gespräche oder auch mal einen Bummel über den Markt. Das war bisher einfach nicht möglich. Besonders am Abend habe ich dann gemerkt wie befreiend es ist, mal ohne extreme Schmerzen einschlafen zu können. Bisher war der Schlaf an Marktwochenenden nämlich schmerzbedingt alles andere als erholsam. Am nächsten Morgen ausgeruht in den Tag zu starten ist eine völlig neue Erfahrung.
Alles in allem hat dieses erste Ausprobieren mir sehr geholfen, meine Hemmungen abzubauen. Es ist lange her, dass ich an einem Markttag so viel gelacht habe und nicht nach drei Stunden Sorgen hatte, wie ich den Rest des Wochenendes überstehe. Ich muss immer noch die meiste Arbeit an meinen Mann delegieren, denn der Rollstuhl nimmt mir nicht die Belastung durch äußere Reize oder Gespräche und ich muss trotzdem sehr regelmäßig Pausen einlegen und mich zurückziehen. Aber das ist mit dem Rollstuhl endlich auch machbar: bisher war der Weg raus aus dem Getümmel schon zu belastend, und ich musste komplett zuhause bleiben. Mal wieder rauszukommen, Menschen zu treffen, gemeinsame Zeit mit meinem Mann zu verbringen und nicht zuletzt auch erleben zu dürfen, wie meine „Seifen-Erfindungen“ an den Mann oder die Frau kommen, ist ein tolles Gefühl und eröffnet endlich mal wieder positive Perspektiven.
Neue Einsichten
Besonders spannend (und tatsächlich auch anstrengend) waren die für mich völlig neuen Erfahrungen als Rollstuhlfahrer. Menschen ohne Handicap machen sich überhaupt keinen Begriff, was alles zum Hindernis werden kann. Mit dem Rollstuhl ist man gezwungen, wesentlich aufmerksamer unterwegs zu sein als zu Fuß, denn jede Bodenwelle und jeder Bordstein wollen wohl überlegt um- oder überfahren werden. Ein einziger Zentimeter entscheidet darüber, ob ein Bordstein ohne fremde Hilfe genommen werden kann oder ob er zum unüberwindbaren Hindernis wird. Und Flächen, die bei Sonnenschein kein Problem sind, werden nach einem Regenguss zur Falle, weil die Räder einfach durchdrehen. Glücklicherweise sind aber fast immer sofort freundliche Helfer vor Ort, die ungefragt zupacken und assistieren.
Mit einem Rollstuhl brauchst du Platz zum Rangieren. Auf so einem Marktgelände liegen gefühlt alle 50m Kabelbrücken quer über den Weg, und um über die Dinger fahren zu können, musst Du entweder wenden und rückwärts drüberfahren, oder du musst sehr genau zielen um die Hürde im rechten Winkel zu nehmen. Hier muss man einfach damit rechnen, dass dein Platzbedarf den anderen Besuchern nicht bewusst ist, und das erfordert ziemlich viel Geduld. Im Gedränge am Wochenende musste ich einige Male ein paar Minuten vor einer 10cm-Barriere auf eine Lücke im Besucherstrom warten. Überhaupt empfand ich es als anstrengend, wenn Menschen keinen Mindestabstand einhalten. Denn im Gegensatz zum Leben zu Fuß kannst du dich halt nicht mal eben so durchschlängeln und siehst dich plötzlich umringt von Hintern und Handtaschen.
Die allermeisten Menschen zeigen Rücksicht und Verständnis. Im Event-Gedränge scheinen sie sich dann aber doch ein bisschen zu vergessen. Man bleibt dann halt einfach mal mitten im Weg stehen, um sich die Auslage anzusehen oder ein Schwätzchen zu halten. Und ist man fertig, macht man ohne zu schauen einen Schritt zurück und reiht sich wieder ein. Den Typ im Rollstuhl auf Hüfthöhe übersieht man dann eben, und leider musste ein Herr das nach dem Prinzip „Lernen durch Schmerz“ erfahren. Der ist dann halt einfach mal über mich drüber gefallen. Es ist nix passiert, allerdings habe ich dann die volle Schimpftirade abbekommen. Nun, ich kann es nicht ändern. Irgendwann möchte ich halt auch mal weiterkommen. Kinderwagen und Hunde sind hier deutlich im Vorteil, denn dank aufrecht stehender Eltern oder Herrchen sind die besser zu sehen, Kinder sind immerhin niedlich und Hunde beissen halt im Zweifel in die Wade. Als Rollstuhlfahrer bin ich weder niedlich noch bissig und dadurch für manche Menschen eben ein Hindernis. Die sind zum Glück die Ausnahme, aber damit muss man anscheinend rechnen. Kommt mit ins Lernprogramm.
Ein großes Dankeschön geht aber von meiner Seite an die Veranstalter: das Team von Reno Müller hat sich wirklich ins Zeug gelegt und im historischen und teilweise sehr naturbelassenen Schlosspark fast alle Hürden aus dem Weg geräumt. Am verregneten Freitag sah man die Engel in Grün ständig ausbessern und Hindernisse markieren, damit trotz allem auch Menschen mit Handicap bis in die hinterste Ecke des Events kommen können.
Auch der Schlossherrin Heide Prinzessin von Hohenzollern war es offensichtlich ein großes Anliegen, dass alle Besucher zufrieden sind. Auch in diesem Jahr lud sie am ersten Abend alle Aussteller in ihr Schloss zum Wein ein. Eine Geste, die so dermaßen fernab von selbstverständlich ist, dass man nicht oft und laut genug dafür Danke sagen kann. Ich hätte wirklich kein Problem damit gehabt meinen Wein im Schlosshof zu schnabulieren, aber schneller als ich reagieren konnte wurde eine Rampe organisiert und Speis und Trank von ihr persönlich gereicht. Darauf bilde ich mir nichts ein, gefreut hat es mich aber trotzdem. Beim Wein interviewte sie mich zur Barrierefreiheit, entschuldigte sich (unnötigerweise) für diverse Hindernisse und war sichtlich erfreut über meine Einstellung, dass ein historischer Park nunmal nicht komplett barrierefrei sein kann. Auch als Rollstuhlfahrer möchte ich ja Flair atmen können und nicht in einer Wüste aus Asphalt und Riffelblech unterwegs sein.
Verwunderte Blicke
Tatsächlich trat auch das ein was ich befürchtet hatte, wenn auch in geringerem Umfang: der ein oder andere konnte sich Kommentare wie „du kannst ja doch laufen“ nicht verkneifen, wenn ich den Rolli mal verlassen habe. Die wenigsten wollten sich dann die Gründe im Detail anhören, und da kann ich dann auch nicht weiterhelfen. Dieser Aspekt war zugleich meine größte Hemmschwelle in Sachen Rollstuhl. Nun wo ich aber die positiven Effekte auf meine Lebensqualität im wahrsten Sinne „erfahren“ durfte, sind mir die Zweifler ziemlich egal.
Besonders beim Abbau kam da das ein oder andere kritische Hinterfragen. Es gibt aber beim Abräumen unseres Markstandes eben den ein oder anderen Handgriff, den man nur zu zweit erledigt bekommt. Und ich hab mich ehrlicherweise wie ein Schneekönig darüber gefreut, dass ich dank der durchs Rollen gesparten Energie dann meinem Mann zur Hand gehen konnte statt ihn wieder einmal dazu nötigen zu müssen sich um Hilfe zu kümmern. Der macht ja schon den ganzen Tag meine Arbeit, dann soll er sich nicht auch noch meine Sorgen machen müssen. Die 10 Schritte beim Abbauen mögen Außenstehende ja verwundern, aber mir sind sie wichtig. Und ich bin ja nicht gelähmt und habe meine Beine noch.
Fazit
Ich will den Rollstuhl haben. Ich werde ihn nicht immer brauchen, aber wenn ich ihn brauche sorgt er für ein gewaltiges Plus an Freiheit und Lebensqualität. Ja, ich komme mir stellenweise noch dämlich vor, vor allem auf kurzen Strecken. Aber jeder eingesparte Schritt gibt mir mehr Freiheit für andere Aktivitäten, für Wichtiges und für Schönes, was sonst auf der Strecke bleibt. Ich habe total unterschätzt wie sehr mir der Verlust von Bewegungsfreiheit und Sozialkontakten zusetzt. Die Isolation durch ME kam ja schleichend, die Auflösung des Knotens passierte nun plötzlich und beinahe explosiv. Der Rollstuhl löst bei Weitem nicht alle Probleme und ich werde trotzdem weiterhin sehr vorsichtig sein müssen was mein Pacing angeht. Aber er schafft darin Kapazitäten und reduziert vermeidbaren Energieverbrauch. Dafür nehme ich gern ein paar Umstände in Kauf.
Nun gilt es bei der Krankenkasse Gas zu geben. Ich warte immer noch auf die Verordnung (und das macht mich wahnsinnig!), habe mich aber nun dazu entschieden den Rolli für die nächsten Wochen zu mieten. Das frisst den Gewinn des vergangenen Wochenendes zwar komplett auf, aber ich habe dadurch die Chance, meine Lieblingsjahreszeit mal wieder draußen zu erleben und nicht bis zum Jahresende auf gemeinsame Zeit mit meinem Mann verzichten zu müssen. Hinzu kommt: ich bin nun seit Wochen derart im Eimer und derart wenig belastbar, dass ich nach jedem Strohhalm greife der mir den Weg raus aus diesem Dauer-Crash erleichtert. Absolute Schonung wird die kommenden Wochen nicht funktionieren, selbst wenn ich komplett zuhause bliebe. Denn der Irrsinn mit den Behörden läuft ja immer noch und nimmt weiter Fahrt auf. Jedes bisschen Entlastung hilft, daraus keinen Schaden zu ziehen. Und jedes bisschen gute Laune trägt dazu bei, nicht komplett durchzudrehen.
Super das deine Erfahrungen deine Zweifel bei Seite geschoben haben. Und ehrlich das Bild sieht richtig Flott aus! Ich finde es richtig toll wie du mit dem Thema umgehst auch wenn viele Menschen einfach einen sehr eingeschränkten Horizont haben.
Wer weiß vielleicht wird dein alternatives Fortbewegungsmittel durch deine kreative Hand demnächst so Interessant das die Menschen lieber gucken statt dir im Weg zu stehen.
Ich mag deine Texte, sie sind knallhart ehrlich
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