Die „Akte Rollstuhl“ ist ein ziemlich emotionales Thema für mich: zum ersten Mal im Leben bin ich abhängig von einem technischen Hilfsmittel, wenn ich zumindest in Teilen ein einigermaßen „normales“ Leben führen möchte. Und nach außen wird ME/CFS durch den Rollstuhl erstmals sichtbar. War ich bisher – wenn ich denn vor die Tür gegangen bin – aus Sicht Vieler „der Macher“, erscheine ich plötzlich verletzbar. Zumindest empfinde ich das so.
Nach dem ersten Test allerdings habe ich Blut geleckt: das Handicap zu akzeptieren gibt plötzlich neue Freiheiten, die über die letzten zwei Jahre immer weiter und schleichend eingeschränkt wurden. Die Aussicht, endlich auch mal wieder alleine vor die Tür zu kommen, etwas zu erleben oder zu erledigen und vielleicht auch mal wieder Freunde treffen zu können ohne im Anschluss mindestens 3 Tage flach zu liegen war endlich mal wieder eine Positive. Also habe ich mit wirklich großartiger Unterstützung durch das Rollstuhlzentrum Burbach + Goetz in Koblenz den Rolli bei der Krankenkasse beantragt. Mit großer Sorge, dass auch diesmal wieder abgelehnt wird.
Das kleine Wunder
Und dann ist passiert, womit niemand gerechnet hat: nicht ganz eine Woche nach Eingang des Antrages bei der Techniker Krankenkasse lag in deren App – beinahe unscheinbar – eine Nachricht mit dem Betreff „Ihr Antrag auf Kostenübernahme“. Während des unsäglich langsamen Anmeldeverfahrens für die App (Deutschland digitalisiert in 2025…) stieg ein wenig Panik auf, und als die Nachricht dann endlich geöffnet war, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen: sie haben das Ding bewilligt. Ohne Theater, ohne irgendwelche Gutachten und Rückfragen, in voller Höhe gemäß Kostenvoranschlag und bis Ende 2030.
Bei all den negativen Erfahrungen mit den Kostenträgern in den vergangenen 3 Jahren ist das endlich mal ein Lichtblick, und vielleicht hilft das auch dabei, das Versorgungsamt davon zu überzeugen dass „20% GdB wegen psychischer Störung“ eher unangemessen sind. Möglicherweise gibt mir dieser Bescheid nicht nur Freiheit im Alltag zurück, sondern ist auch ein Zeichen dafür, dass der ganze Rest auch endlich mal ins Rollen kommt. In jedem Fall aber habe ich eine große Sorge weniger, und das bringt mich ein ganzes Stück weiter.
Was war im Genehmigungsprozess nun der Auslöser dafür, dass es so reibungslos lief? 100%ig lässt sich das nicht sagen. Sicher spielt eine Rolle, dass wohl kaum jemand sich freiwillig in einen Rollstuhl setzt, erst recht nicht wenn auch noch immerhin 500€ Eigenleistung erbracht werden müssen. Ich denke aber auch, dass eine wirklich gute Begründung für den Antrag sehr wichtig ist: hier sollte der Fokus unzweifelhaft auf der Vermeidung von PEM liegen und klar benannt werden, wo die alltäglichen Herausforderungen, Belastungsgrenzen und Crash-Risiken liegen. Letztlich sollte auch das Sanitätshaus bei der Wohnumfeldberatung und in deren Protokoll möglichst ausführlich sein, um letzte Zweifel auszuräumen. Da jeder ME-Patient andere Herausforderungen und Symptome zu meistern hat, sollte auf jeden Fall ein ausführlicher Test möglich sein, um das richtige Rollstuhlmodell zu finden. Ich bin wirklich sehr dankbar, dass das in meinem Fall alles sehr stimmig im Zusammenspiel zwischen Arzt, Sanitätshaus und Krankenkasse funktioniert hat.
Weiter geht’s
Der Rollstuhl bewirkt keine Wunder. Er kann mich nicht heilen und er entbindet mich nicht von der Pflicht, mich weiterhin um konsequentes Pacing zu bemühen. Er schafft aber neue Freiräume und nimmt in Sachen Pacing einige Variablen aus dem Spiel, die bisher für große Unsicherheit gesorgt haben. Und nun gehört er also mir. Es gilt jetzt, weiter Erfahrungen zu sammeln und wirklich auch konsequent die Unterstützung durch den Rollstuhl zu nutzen. Ganz einfach ist das nicht, wenn die Beine prinzipiell noch funktionieren: ich ertappe mich immer noch besonders bei vermeintlich kürzeren Strecken dabei, viel zu lange darüber nachzudenken ob ich den Rolli dafür aus den Kofferraum hole oder nicht. Denn auch wenn ich sie energiesparender zurücklegen kann, werden Wege länger und komplizierter.
Im Rollstuhl merkst du erst, dass auch in 2025 Barrierefreiheit immer noch ein großes Problem ist. Gesunden Menschen ist das nicht bewusst, warum auch. Tatsächlich steht man besonders im öffentlichen Raum oftmals ziemlich hilflos in der Gegend rum, wenn man nur versucht die Straße zu überqueren. Ein abgesenkter Bordstein bringt halt nichts, wenn auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptverkehrsstraße das passende Pendant fehlt oder genau vor der Absenkung ein Gullideckel im Rinnstein die Vorderräder verschlucken möchte. Interessanterweise ist hier die Privatwirtschaft deutlich weiter als der Staat, vor allem sind z. B. im Handel die Lösungen sinnvoller und konsequenter umgesetzt. Auf der Straße kann es schonmal passieren, dass Du für eine Luftlinien-Strecke von 50m am Ende 500m rollen musst. Wenn man die Wege einmal kennt, ist das aber halb so wild, wenn auch schade. Immerhin muss ich die Wege nicht mehr unter Crash-Risiko zu Fuß zurücklegen.
Zu guter Letzt bleibt jetzt die spannende Frage, was das Versorgungsamt aus meiner neuen Situation macht. Tatsächlich ist ohne Anerkennung meiner Schwerbehinderung nämlich in vielen Fällen das Thema Teilhabe in der Kombination aus Auto und Rollstuhl nicht viel mehr als eine Utopie. Die Parkplatzsituation ist vielerorts wirklich schwierig, und zum Ein- und Ausladen braucht es Platz. Parkscheinautomaten sind alles andere als barrierefrei: aus der Rollstuhlposition heraus ist das Display nicht lesbar, und so habe ich beispielsweise in Monreal am Ende doppelt so viel gezahlt wie nötig: die Parkuhr stand auf „Wohnmobil“. Parken am Straßenrand scheitert leider daran, dass ich den Rolli zwar aus dem Kofferraum heben kann, dann aber den Schritt über den Bordstein – beladen wie ich bin – einfach nicht schaffe. Ich habe nun die Hoffnung, dass das Versorgungsamt im laufenden Widerspruchsverfahren diese neue Situation entsprechend anerkennt. Das wird aber wohl noch Monate dauern.