Dunkle, stürmische Meereswellen brechen unter starkem Regen mit einem fernen Leuchtturm, der schwach an der Küste zu sehen ist, und schaffen eine dramatische und stimmungsvolle Meereslandschaft in Schwarz-Weiß.

Zum ersten Mal Angst

Nach zwei Wochen in denen es mir so gut ging dass ich fast vergessen hätte ME zu haben, folgte ein Crash, der in seiner Dynamik absolut neu ist und zum ersten Mal wirklich für Angst sorgt.

Vorspiel

Von heute auf morgen waren alle Symptome – mit Ausnahme der Muskelschmerzen – einfach weg. Vollständig verschwunden. Wo zuvor der Spaziergang nach 300m vorbei war, gab es plötzlich keine Grenze mehr. Schwere Dinge heben? Kein Problem. Drei Stunden konzentriert an etwas arbeiten? Easy.

Ich war misstrauisch und habe trotzdem mein Pacing nicht geändert. Weiter regelmäßig und nach Plan Pausen gemacht, mich ganz allgemein vorsichtig verhalten und mich darüber gefreut, dass es mir dabei endlich auch mal gut geht. Klar, ab und zu habe ich mal ausgetestet was geht. Aber auch nur als Test und nicht mit dem Ziel, die Grenzen neu zu stecken. Und ich habe genossen, dass ich nicht am nächsten Tag mit den Konsequenzen zu kämpfen hatte.

Auf einmal war da sowas wie Lebensqualität zurück. Hoffnung wurde laut, vielleicht doch zu den Glücklichen zu gehören, die irgendwann wieder an diesem „normalen“ Leben teilhaben, vielleicht auch wieder (mit Zugeständnissen) einem Job nachgehen können.

Auftakt

Und dann – es ist jetzt über eine Woche her – kam der Sonntag. Irgendwann am frühen Nachmittag wurde mir kalt. Bitterkalt mit Wunsch nach Wollsocken und Wärmflasche. Ein paar Stunden später wollten die Beine nicht mehr so richtig und quittierten jeden Bewegungsversuch mit starken Schmerzen. Das war’s dann wohl vorerst.

Gegen abend dann war alles schlagartig wieder vorbei. War das jetzt nur ein Ausrutscher? Habe ich vielleicht wirklich gerade nur einen Infekt erwischt?

Furioso

Und dann fing das an, was ich noch nicht kannte: ein Crash in Wellen. Zuckerbrot und Peitsche im Stundentakt. Seit nun einer Woche herrscht totales Chaos: stundenweise kann ich das blühende Leben sein, es folgt aber immer ein vollständiger und extrem heftiger Zusammenbruch.

Im Kopf geht wirklich nichts mehr, beim Schreiben vergesse ich innerhalb eines Wortes was ich eigentlich schreiben wollte, verdrehe Buchstaben, verliere völlig den Kontext. Sinnesreize sind nicht mehr zu filtern. Jedes Geräusch, jede noch so kleine Bewegung im Blickfeld kommt ungefiltert und ohne jede Priorisierung ins Hirn und verursacht dort absolutes Informationschaos. Oberhalb sehr niedriger Schwellenwerte verursachen Reize von außen heftige Schmerzen und spürbares Abfließen von Kraft aus Beinen und Armen.

Von jetzt auf gleich komme ich keine Treppe mehr rauf, habe nach dem dritten Schritt nicht mehr genug Kraft für den Vierten. Mehr als einmal bin ich schon im Garten „gestrandet“, weil ich es nicht zurück ins Haus geschafft habe. Essen und Trinken passiert nur sehr unregelmässig, es ist einfach zu anstrengend.

Der einzige Weg raus ist Hinlegen. Abdunkeln. Isolation. Wenn das ungestört funktioniert, dann ist nach anderthalb Stunden alles vorbei. Restlos vorbei. Für zwei bis drei Stunden ist es dann so, als wäre nichts gewesen.

Und dann beginnt es von vorn. Ohne jedes Zutun. Es spielt offenbar keine Rolle, ob ich die „Hochphasen“ weiterhin im Bett verbringe oder für Aktivität nutze. Die nächste Welle kommt zuverlässig und haut mich wieder um.

Eine beunruhigende Tendenz

Diese Wellen-Bewegung hat eine zutiefst beunruhigende Eigenschaft: sie zeigt eine deutliche Tendenz abwärts. Das Grundniveau sinkt mit jedem Zyklus. Immer nur ein bisschen, doch innerhalb der letzten Tage deutlich spürbar. Auch in Hochphasen bin ich mittlerweile weit weg von „Bäume ausreissen“, dieses schwer zu beschreibende „Grippegefühl“ ist mittlerweile immer da.

Das Ganze wirkt gerade wie ein Schnelldurchlauf: das, was bisher über Monate bis Jahre geschah, passiert in der letzten Woche im Zeitraffer. Die Geschwindigkeit gibt mir keine Gelegenheit zu reagieren: Noch vor ein paar Tagen kündigte sich eine Überlastung an. Ich konnte reagieren, Vorkehrungen treffen und in den meisten Fällen eine Crash abwenden. Das ist gerade unmöglich. Gefühlt kommt hier der Zusammenbruch vor dem Auslöser.

Ich bin bisher ganz gut mit der Einstellung gefahren, dass ME zwar schlimm ist, ich aber innerhalb der Grenzen der Erkrankungen ein gewisses Maß an Kontrolle habe. Offenbar werde ich gerade eines Besseren belehrt.

Timing ist ja alles

Ausgerechnet jetzt kommen dann auch noch äußere Faktoren hinzu und stören ganz erheblich rein. Die Rückkehr des Sommers hätte gern noch ein paar Tage warten können, denn Hitze triggert alle Symptome noch zusätzlich. Ausgerechnet dann wenn meine Geräuschempfindlichkeit am höchsten ist, ist rund ums Haus die Getreideernte fällig und Mähdrescher dröhnen ganztags (und ja: ich sehe ein, dass das sein muss). Mitten in dem ganzen Mist nimmt die Bearbeitung meines Rentenantrages Fahrt auf. Formulare wollen bearbeitet werden, Rückfragen warten auf Antwort. Ungestört Ausruhen geht oft nicht, weil ich auf wichtige Rückrufe warte. Ich hätte niemals gedacht wie stark man verzweifeln kann wenn man die Ruhe nicht bekommt, die man gerade wirklich braucht.

Perspektive?

Im Augenblick kann ich nur versuchen, das Ganze irgendwie zu überstehen. Schadlos wird das nicht möglich sein, aber ich versuche den Schaden zu begrenzen. Auf der To-Do-Liste stehen für die nächsten Wochen nur noch die existentiellen Dinge, alles andere wird vertagt, gecancelt oder – wo das möglich ist – delegiert. Mittlerweile nutze ich die erste „Hochphase“ des Tages dafür, schnell alles Nötige zu erledigen. Und den Rest des Tages verbringe ich liegend, unabhängig davon ob gerade ein Hoch oder ein Tief herrscht. Ich bin relativ sicher, dass sich das Spektakel so durchbrechen lässt.

Was das für die Zukunft bedeutet ist noch offen. Sind ausgedehnte Hochs nun Vorboten für üble Crashs? Ich hoffe nicht. Aber ich bin alarmiert. Bereits jetzt habe ich aber den festen Entschluss gefasst, trotzdem nicht nur noch im „Alarm-Modus“ durchs Leben zu gehen.

Die vergangenen Tage zeigen deutlich die Unberechenbarkeit von ME. Eine reine „Vermeidungsstrategie“ würde bedeuten, mein Leben noch weiter einzuschränken. Und dann stellt sich wirklich die Frage nach dem Ziel: geht es um Crash-Vermeidung oder geht es um Lebensqualität? Ich entscheide mich für Letzteres, so lange das möglich ist. Das setzt eine gewisse Risikobereitschaft voraus, bedeutet aber nicht gleichzeitig Verantwortungslosigkeit. Die neue Aufgabe wird sein, noch besser die Gratwanderung zwischen Leben und Schonen zu trainieren. Challenge accepted.

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