Verwechslungen: Long Covid vs. ME/CFS

Ein roter und ein grüner Apfel liegen neben einer grünen Birne auf einer Holzoberfläche vor einem schwarzen Hintergrund und werden von der Seite beleuchtet, um ihre Texturen hervorzuheben.

Verwechslungen: Long Covid vs. ME/CFS

Unwissenheit ist bekanntermaßen ein großes Problem. Und ME/CFS als weitgehend unbekannte Krankheit lässt viel Spielraum für falsche Vorstellungen, fixe Ideen und fehlgeleitete Überzeugungen. Wie praktisch, dass da gerade was durch die Welt geht, was auf den ersten Blick ganz ähnlich ist, bei dem es einen Zusammenhang mit ME/CFS zu geben scheint und was so gut wie jeder in seinem Umfeld schon wahrgenommen hat.

Zwei Reisende im gleichen Zug

Long Covid und ME/CFS erscheinen ähnlich, sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Krankheiten. Es gibt dieses eine, alles entscheidende Kriterium, mit dem sich ME/CFS von allen anderen Fatigue-Erkrankungen abgrenzen und eindeutig diagnostizieren lässt: die Postexertionelle Malaise, kurz PEM oder von Betroffenen auch sehr zutreffend „Crash“ genannt. Es ist – vereinfacht gesagt – der vollkommende Zusammenbruch nach einer körperlichen, kognitiven oder emotionalen Belastung mit (und das ist entscheidend!) einer zeitlichen Verzögerung von bis zu 72 Stunden. Diese Crashs können ein paar Stunden, aber auch über Monate bestehen und hinterlassen oft auch eine bleibende Reduktion der Belastungsgrenze. Kurzum: jeder dieser Crashs könnte der eine sein, der Dich zum bettlägerigen Pflegefall macht. Für immer.

Während einer PEM verschlechtern sich alle bestehenden Symptome. Und die sind fatalerweise denen von Long Covid sehr ähnlich: eine alles lähmende Erschöpfung, Muskel- und Nervenschmerzen, ein ständiges Grippegefühl, kognitive Einschränkungen, Kurzatmigkeit und vieles mehr. Diese Ähnlichkeit führt allzuoft dazu, dass beide Krankheiten in einen Topf geworfen werden. Leider aber unterscheiden sie sich drastisch in der Art und Weise, wie sie behandelt werden: geht man mit einigem Erfolg bei Long Covid den Weg der vorsichtigen Aktivierung durch moderates Training, ist genau das bei ME/CFS nicht nur nicht hilfreich, sondern extrem gefährlich. Hier ist nämlich bedingungslose Einhaltung der Belastungsgrenzen erforderlich, um Crashs zu vermeiden. Selbst auf medizinischer Seite wird das oft genug nicht beachtet, und so kommen nicht wenige ME/CFS-Patienten kaputter aus einer Reha zurück als sie reingegangen sind. Der Schaden ist dann nicht mehr zu korrigieren – nie wieder.

Genau wie Long Covid tritt ME/CFS oft, aber nicht immer nach einer schweren Infektion auf. Bekannte Auslöser sind vor allem das Eppstein-Barr-Virus („Pfeiffersches Drüsenfieber“), die echte Grippe und „seit Neuestem“ eben auch Corona. Long Covid kann, wenn es richtig blöd läuft, über die Zeit eine Vorstufe für ME/CFS sein. Es kann aber auch (wie viele andere schwere Erschöpfungszustände nach Infektionskrankheiten) mit der Zeit und mit der richtigen Behandlung wieder „verschwinden“, und das tut es zum Glück in den meisten Fällen. ME/CFS hingegen bleibt für immer, kann nach heutigem Stand nicht ursächlich behandelt werden und wird auch nicht wieder besser.

In einem Topf

Und diese Ähnlichkeiten führen leider sehr fix dazu, dass alles in einen Topf geschmissen wird. Es ist für mich nahezu unfassbar, wie viele Leute aus meinem nächsten Umfeld immer noch davon ausgehen, dass der Christian Long Covid hat. Und dann wirst Du bombardiert mit Geschichten von Dir völlig fremden Menschen, denen es ja durch diese oder jene Behandlung mittlerweile wieder viel besser geht. Versuch mal dies, versuch mal jenes, ja warum machst du denn nix?

Warum passiert das? Weil wir Menschen gern unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg gehen und uns lieber aus unserem Erfahrungsschatz bedienen als neue und vielleicht kompliziert Fakten zu akzeptieren. Und vielleicht auch, weil uns unser Gegenüber doch nicht so sehr interessiert wie wir vorgeben. Das macht mich übrigens genauso böse wie dieser Satz klingt, aber wäre da echtes Interesse, müsste ich nicht immer und immer wieder auf den Unterschied hinweisen.

Die Schwester der Nachbarin von Tante Erika

Der einfache Weg zum Verständnis ist das Zuhilfenehmen von Erfahrungen. Und um nicht all zu emotional an die Sache zu gehen, nimmt man nicht die eigenen, sondern die von irgendjemandem. Und weil der Christian ja vor 2 Jahren Corona hatte, also sowas wie ne Grippe, nimmt man die Schwester der Nachbarin von Tante Erika. Die hatte nämlich mal die Grippe und war danach so richtig krank. Die musste sich sehr schonen, damit sie nicht noch ne Herzmuskelentzündung bekommt. Aber nach 3 oder 4 Wochen war dann wieder alles gut.

Das ist ein sehr schöner Vergleich, denn der ist weit genug weg um nicht emotional zu werden und nah genug an dem Problem vom Christian dran um irgendwie jetzt auch was dazu sagen zu können. Denn: das ist ja wie bei diesem Long Covid. Das dauert zwar was länger, aber das wird ja wieder gut. Wenn man nur das Richtige macht. Wie z. B. damals die Schwester der Nachbarin von Tante Erika, die ganz viel Spazieren war und irgendwann sogar Jogging gemacht hat. Und Yoga. Und die hat damals auch ihre Ernährung umgestellt.

Damit ist schnell eine passende Erklärung für alles gefunden. Und dieser neumodische Kram mit diesem ME/CFS ist so abgedreht, da kommt gerade ja jeder mit umme Ecke. Die Schwester der Nachbarin von Tante Erika hat damals auch gedacht sie hätte einen Infarkt. War aber nicht, die war halt nur was hysterisch. Und über diese Denke und Verschlossenheit schützt man sich dann selbst vor der Erkenntnis, dass man gerade jemanden vor sich hat dessen Situation ausweglos ist. So kommt man um eine allzu emotionale Auseinandersetzung drumherum, kann das Thema für sich abhaken und muss sich nicht auch noch mit sowas kompliziertem und kontra-intuitivem wie einer neurologischen Erkrankung rumschlagen.

Mehr als nur ein bisschen nervig

In allererster Linie ist dieses In-Einen-Topf-Werfen für mich unglaublich verletzend. Es impliziert nämlich dass ich auf dem falschen Pfad bin, und wenn ich nur etwas ändern wollte dann könnte ich das tun. Und es zeigt mir jedes Mal aufs Neue, wie egal ich den Anderen bin. Ein richtiger Schlag in die Fresse, denn eben dieses Mit-Der-Krankheit-Alleingelassen-Werden ist hinsichtlich der medizinischen Versorgung und der politischen Unterstützung ein ganz alltäglicher Fakt, und wenn dann doch Dein nächstes Umfeld genauso desinteressiert ist, dann tut das weh.

Es ist aber auch ein „strategisches“ Problem: auch in der Medizin, in der Forschung und in der Politik werden beide Erkrankungen immer noch verwechselt und vermischt, obwohl ME/CFS schon ein halbes Jahrhundert bekannt und von anderen Krankheiten abgegrenzt ist. Das führt zum Einen dazu, dass immer noch nicht genug an ME/CFS geforscht wird, weil die ja jetzt alle Long Covid haben. Und weil – glücklicherweise – die meisten LC-Patienten wieder gesund werden, wird diese Erkenntnis gerade brandaktuell einfach so und fälschlicherweise politisch auf die ME/CFS-Patienten übertragen. Ich würde mir wünschen, dass wenigstens die Menschen die mir nahestehen den Unterschied kennen und ein wenig zur Verbreitung dieses Fakts beitragen würden, um mittelfristig unsere Versorgung zu verbessern.

Ganz konkret bedeutet die Verwechslung für mich, dass die Sozialversicherungen erst unterstützend aktiv werden wenn ich wider besseren Wissens und entgegen jeder Studienlage zuerst alle Behandlungsmöglichkeiten für Long Covid durchprobiert habe. Kurz: Hilfsmittel, Kostenübernahme für Medikamente und schlimmstenfalls Erwerbsminderungsrente gibt es erst dann, wenn ich eine aktivierende Reha gemacht habe und die keinen Erfolg gebracht hat. Dass genau das meinen Zustand wissentlich verschlechtert wird ignoriert, denn für ME/CFS gibt es noch keine konkreten Konzepte in den Kliniken, aber das ist ja so ähnlich wie Long Covid.

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